Transzendenz

Zeichnung für die Freimaurer Loge "Zum Verein der Menschenfreunde" Nr.211 im Orient Trier

 

 

Ein Ver-Such(en) zu den Themen Transzendenz und Erkenntnis

 

Bei einem unserer letzten Bruderabende entspann sich eine Diskussion: Was kann man wissen? Und kann man irgendwann alles wissen? Was kann man erkennen? Und ist das Erkannte real? In diesem Zusammenhang stellt ein Bruder – nennen wir ihn Bruder D - die Frage, ob es so etwas wie Transzendenz tatsächlich gibt – oder ob nicht vielmehr einfach die Realität als solche gegeben ist und fertig.

Es hat bei mir einige Gedanken angestoßen:

Zuerst einmal musste ich feststellen, dass die Frage nach Transzendenz überhaupt keine triviale Frage ist. Sie zu beantworten, ist verdammt schwer.

Als erster möglicher Nachweis dafür kam mir dann in den Sinn: Ist es nicht schon eine gedankliche Leistung, wenn wir von einzelnen Gegenständen ausgehend Verallgemeinerungen bilden, Abstraktionen? Vielleicht ist schon die Tatsache, dass wir Gegenständen ein Wort (einen Namen) zuordnen, eine Form von Abstraktion. Und ist nicht diese gedankliche Leistung eine Form der Transzendenz? Eindeutig gehen wir dabei ja geistig über den einzelnen, sinnlich erfahrbaren oder messbaren Gegenstand hinaus! Das wäre das Thema der sogenannten Universalien. Es hat mich zu einer Zeichnung zum Universalienproblem angeregt, mit der ich euch heute ursprünglich quälen wollte. Es hätte für euch, liebe Brüder, 30 Minuten Philosophiegeschichte bedeutet. Diese Zeichnung ist zwar nicht viel kürzer, aber ich hoffe, sie ist ein bisschen zugänglicher.

 

Als ich eben die Transzendenzfrage beschrieben habe, habe ich die Begriffe „geistig“ oder „gedanklich“ im Unterschied zu „sinnlich wahrnehmbar“ oder „messbar“ verwendet. Im oben beschriebenen Sinn wäre damit ja bereits jede geistige Verarbeitung einer Sinneserfahrung ein transzendentales Verfahren. Es sei denn, man nimmt an, dass ein geistiges Produkt, ein vernünftiger Gedanke ebenfalls ein Bestandteil der Realität als solcher wäre - nur auf einer anderen Ebene. Immerhin arbeitet die Wissenschaft daran, geistige Prozesse zu analysieren – etwa als biochemische Prozesse, als mikro-elektronische Schaltungen usw.. Auch die Entwicklung von KI deutet in diese Richtung. In diesem Fall also: keine Transzendenz. Die Welt wäre eine rein rationale, rationalistische Welt. Und damit könnten wir irgendwann alles wissen …

 

In unserer Diskussion widerspricht ein Bruder – nennen wir ihn Bruder U – vehement. Er ist selbst Wissenschaftler, und gerade damit hat er die Erfahrung gemacht: Bei jeder gefundenen Antwort ergeben sich wieder neue Fragen. Und: Das Wissen bleibt ein Korken, der auf dem Ozean des Unbekannten schwimmt.

Bruder F jedoch lässt das nicht als Gegenargument gelten. Er bezieht sich auf das Wörtchen „irgendwann“. Auf einem Zeitstrahl, der unendlich in die Zukunft reicht, wird „irgendwann“ theoretisch tatsächlich „Alles“ gewusst. Praktisch ist dies natürlich nicht der Fall. Man könnte aber sagen, dass sich im Unendlichen das Wissen asymptotisch dem „Alles“ annähert. Damit trifft diese These erkenntnistheoretisch zu und es kann im Prinzip alles erkannt werden. In der Praxis bedeutet dies einfach, dass die Wissenschaft von Frage zu Frage voranschreitet und sie eine nach der anderen beantwortet.

 

Bei meiner Beschäftigung mit philosophischen Antworten auf diese Fragen, zeigen sich noch ganz andere Aspekte.

Die bisher gestellte Frage nach Transzendenz ist eine ontologische: Gibt es Transzendenz, bzw. gibt es eine Realität jenseits der real erfahrbaren Welt. So ist man in der Antike und im Mittelalter an die Frage herangetreten. Und hat sie übrigens überwiegend mit JA beantwortet. Es war ein Zeitalter der Transzendenz: eine Welt des Geistes und des Glaubens.

Ab der Neuzeit jedoch stellt man die Frage anders. Man fragt nun, wie die Welt als solche überhaupt erkannt wird - falls sie überhaupt unabhängig von uns existiert. Es wird bald klar, dass „Welt“ nur als Bewusstseinszustand vorkommt. Nur die Abbildung der Welt in unserem Geist, ihre Wahrnehmung also, steht in unserem Zugriff. Die Philosophen untersuchen, wie diese Wahrnehmung funktioniert. Braucht es dazu angeborene Fähigkeiten? Oder ist alles ein Lernprozess aus gemachten Erfahrungen? Man kann aber auch diese Fragen beiseitelassen: Einzig die Phänomenologie der Welt in unserem Bewusstsein ist dann Gegenstand der Untersuchung. Ob sie dabei unabhängig von uns existiert, ist egal.

Transzendenz definiert sich in diesen Zusammenhängen völlig anders. Sie besteht darin, dass ein Gegenstand „an sich“ nicht erfasst werden kann, sondern eben nur seine Erscheinungsform. Und nie perfekt oder vollständig, sondern immer nur in Teilaspekten und subjektiv gefiltert. Transzendenz ist damit nun die Gegebenheit, dass sich ein Objekt in unserem Bewusstsein abbildet. Die metaphysische Ebene, also eine Realität hinter der gegenständlichen Welt, ist zu einer inneren Ebene namens Bewusstsein geworden.

 

Was wird daraus in unserer brüderlichen Diskussion?

Bruder D, der an die real-existierende Außenwelt glaubt, müssen wir entgegenhalten, dass er bei jeder Erkenntnis, allem Wissen, tatsächlich nur einer subjektiven Wahrnehmung gewiss sein kann. Es gibt keinerlei Möglichkeit, eine Welt im Außen und damit Wissen darüber als wahr oder falsch zu beweisen. Die objektive Welt mag existieren, oder aber es wird eine subjektive Welt als eine Art Projektion durch unseren Geist erschaffen. Die einzig mögliche Antwort ist agnostizistisch: Es lässt sich nicht entscheiden, aber es ist auch nicht von Belang.

 

Stellt sich die Frage, warum Wissenschaft denn überhaupt funktioniert, wenn sie doch eigentlich im Blindflug ist. Bruder A in unserer Diskussion gibt zu bedenken: Wenn die Welt so relativistisch wäre, also durch viele subjektive Geister jeweils erschaffen, wieso gibt es dann nicht verschiedene Realitäten? Selbst bei einem universellen soziologischen Abstimmungsprozess bezüglich der Realität müssten doch Unterschiede erkennbar werden zwischen z.B. australischen Aborigines und Europäern… Es gibt natürlich gravierende Unterschiede – aber fliegen können Aborigines auch nicht. Es gelten auch für sie physikalische und andere naturwissenschaftliche Gesetze. Andererseits – gibt Bruder F zu bedenken – kann man feststellen, wie geistige Prozesse auch zu einer veränderten äußeren Realität führen. So ging z.B. der gedankliche Prozess der Emanzipation gegenüber Gott, bei dem der Mensch nach und nach ins Zentrum des Geschehens rückt, parallel zu der Entwicklung der Zentralperspektive in der Geometrie und in der Kunst. Nach Bruder F wurde dieses neue Wissen an dieser Stelle nicht entdeckt, sondern vom menschlichen Geist erschaffen! Die reale Welt – und auch die menschliche Geschichte – wären danach eine permanente Emanation aus dem Geist.

Kommen wir zurück auf unseren Agnostizismus. Die andere Möglichkeit war ja die tatsächlich existierende objektive, äußere Welt – eben die Welt, an welche die Wissenschaft und unser Bruder D glauben. Dass sie erkenntnistheoretisch nicht beweisbar ist, wird in der Regel ignoriert. Tatsächlich liefert die Wissenschaft offensichtlich doch Erkenntnisse, die objektiv gültig sind – wie z.B. die Naturgesetze. Und sie liefert Ergebnisse, die uns voranbringen. Wie könnten wir sonst im 20. Jhd. zum Mond fliegen?

 

Doch merkwürdigerweise – und dies ist eine noch sehr junge Entwicklung – ist genau diese Wissenschaft mit ihrer eigenen Methode an die Grenzen gestoßen: Man musste erkennen, dass das oberste wissenschaftliche Gesetz, nämlich die Objektivität, nicht haltbar ist. Ein Paradoxon: Wissenschaft erkennt, dass Wissenschaft nicht gültig ist. Die Rede ist natürlich von der Ebene der Quantenphysik, also einer Weltbeschreibung im subatomaren Raum. Objektivität, Naturgesetze, Kausalität, Raum, Zeit und vieles mehr: alles Fehlanzeige.

Was bedeutet das im alltäglichen Leben? Technisch wird die Quantenphysik bereits angewendet - auch wenn es kein Modell gibt, um sie zu verstehen. Darüber hinaus aber müssen wir anerkennen, dass die allgemeinste physikalische Basis der gegenständlichen Welt ein Universum an Möglichkeiten eröffnet. Und diese Möglichkeiten sind nicht im herkömmlichen Sinn physikalisch, nicht logisch, nicht objektiv, nicht messbar. Auf jeden Fall stehen sie aber in Interaktion mit dem Beobachter – also im Verhältnis zu einem spezifischen Subjekt. Was könnte das bedeuten? Vielleicht ist hier ja sogar ein Tor, offen für eine geistige Einwirkung, einen kreativen Prozess des Erschaffens. Niemand weiß das bisher. Physik und Philosophie berühren sich an dieser Stelle.

 

Gehen wir noch einen letzten Schritt weiter. Im frühen 20. Jhd. entdecken die Philosophen auch den Körper als Faktor in der Gleichung. Erkenntnis ist demzufolge nicht ein rein geistiger Vorgang, unsere Wahrnehmung ist „verkörpert“. Und es handelt sich dabei keineswegs nur um ein passives Aufnehmen von Sinnesreizen. Vielmehr ist es eine aktive Beziehung, eine dynamische Interaktion mit der Welt. Der Körper ist in dieser Interaktion das Medium des Bewusstseins. Dabei können Körper und Geist nicht getrennt werden. Und auch der Gegensatz Subjekt – Objekt fällt zusammen. Durch den Körper erfahren wir die Welt, doch zugleich sind wir damit ein Teil der Welt. Also ein bisschen wie in der Quantenmechanik …

 

Versuchen wir uns zum Abschluss an einer Zusammenfassung.

1. Die Erkenntnistheorie hat uns gelehrt, dass Realität immer ein Bewusstseinszustand ist. Ob es eine äußere, objektive Realität gibt, kann nicht erkannt werden. Realität könnte auch eine subjektiv geschaffene sein.

2. Auch die Naturwissenschaft muss heute anerkennen, dass die Welt nicht objektiv zu beschreiben ist. Naturgesetze gelten zwar in einer Näherung, doch sind sie keine absolut gültigen Prinzipien der Realität. Es muss eine Relativität eingeräumt werden, bei der ein Beobachter – ein Subjekt – eine entscheidende Rolle spielt.

3. Neuere philosophische Betrachtungen schließen die Körperlichkeit des Menschen ein. Subjekt und Objekt sind dabei nicht voneinander zu trennen. Geist und Stofflichkeit (der Körper) können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden. Wahrnehmung ist ein dynamischer und ganzheitlicher Prozess des aktiven Verwoben-Seins mit der Welt.

 

Weiter oben hatten wir gesagt, dass mit dem Mittelalter die Zeit des Geistes und des Glaubens zu Ende ging. Sind wir auch jetzt wieder an einer Zeitenwende? …

Dann wäre es wohl das Ende der Wissenschaft, das Ende des scheinbar objektiven Wissens.

 

Was steht stattdessen am Horizont? Eine Versöhnung von Materie, Erde, Natur, Körper mit Geist und Seele? Eine Spiritualität, die Wissenschaft und Technik genauso integriert wie Esoterik?

Wie hieß es einmal in einem Buch aus den 1970er Jahren: „Der Buddha thront nicht nur im Kelch einer Lotosblume. Er thront auch im Kolben eines Motorrads.“ *)

 

Transzendenz bedeutet damit am Ende nichts anderes als die Begegnung mit der Welt: Es ist das ständige Überschreiten unserer bisherigen Erfahrungen durch unsere leibliche Existenz. Wenn wir nie vollständig in uns selbst abgeschlossen sind, sind wir dafür offen…

 

 

Trier, im März 2025

FJF

als Zeichnung aufgelegt am 21.03.25

 


*) Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten, Robert M. Pirsig, 1974, S. Fischer Verlag